«Junge Menschen können besonders bedroht sein und sich in einer schwierigen Lebensphase vom religiösen Radikalismus angezogen fühlen. Wir versuchen, einen religiösen Gegendiskurs oder alternative Erzählungen zu entwickeln»
Rejhan Neziri, Imam
Radikalisierung – Prävention, Massnahmen, Verantwortlichkeit
Radikalisierung: Über was sprechen wir?
Radikalisierung ist ein Begriff mit wandelbaren Grenzen und beschäftigt das Tagesgeschäft von Vertretern in Staat, Politik und Gesellschaft dauerhaft. Allgemein gesprochen handelt es sich bei Radikalisierung um «den Prozess, im Zuge dessen ein Individuum oder eine Gruppe eine gewaltsame Form des Handelns an den Tag legt, die direkt an eine extremistische Ideologie politischen, sozialen oder religiösen Inhalts gebunden ist und die etablierte politische, soziale oder kulturelle Ordnung in Frage stellt» (Khosrokhavar, 2014, übersetzt aus dem frz.).
Der Begriff der Radikalisierung, heute verwendet zur Bezeichnung eines sehr heterogenen Ensembles gewaltsamer Einstellungen und Verhaltensweisen, tauchte in den frühen 2000er Jahren auf. Er bezeichnete die Entwicklung extremistischer politischer Strömungen innerhalb des sunnitischen Islam und insbesondere ihre dschihadistischen Spielarten, wie sie sich in den Vereinigten Staaten und in Europa zeigten.
Der moderne Dschihadismus ist eine politisch-revolutionäre Strömung, die ihren Ursprung in Afghanistan der 1980er Jahre und den dortigen kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion hat. Nachdem seine Doktrin zunächst in Zentralasien und dem Nahen Osten auftauchte, wurde sie schliesslich in westliche Länder exportiert.
Forscherinnen und Forscher sind sich nicht einig, wie das Phänomen der Radikalisierung in westlichen Kontexten zu bewerten ist. Einige heben die zentrale Rolle hervor, die die Religion in diesem Zusammenhang spielt und beschreiben dabei vor allem die Entwicklungen (neo-)salafistischer Strömungen und ihrer Auswüchse. Andere verweisen darauf, dass im Prozess der Radikalisierung vielmehr eine Wertekrise der jungen Generation oder die Diskriminierung ausschlaggebend seien, die Migrantinnen und Migranten häufig erleiden.
Aus Schweizer Sicht
Die dschihadistische Ideologie ist eine der möglichen Ausdrucksformen von Radikalisierung und hat viele junge Europäerinnen und Europäer angezogen, darunter auch Schweizerinnen und Schweizer. Manche unter ihnen haben sich in terroristischen Gruppierungen engagiert und sind in Kampfgebiete wie vor allem Syrien und den Irak gezogen. Wie andere europäische Länder ist auch die Schweiz seit mindestens zwei Jahrzehnten mit diesem Phänomen konfrontiert. Seit 2001 veröffentlicht der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) jährlich Berichte, in denen die Abreisen von «Dschihad-Reisenden» in die Kampfzonen gelistet und ein Überblick über radikalisierungsgefährdete Personen gegeben werden. Seit Februar 2019 hat sich die Anzahl derjenigen, die in Kriegsterritorien aufgebrochen sind, auf 92 eingependelt. Eine Reihe von Personen wird zudem jedes Jahr aufgrund ihrer als riskant eingestuften Aktivitäten vom Bund überwacht. Die militärische und territoriale Niederlage des islamischen Staates erklärt zum Teil diese Stabilisierung der Zahl an Ausgereisten. Die Behörden sind jedoch weiterhin sehr wachsam in Bezug auf die Entwicklungen des Dschihadismus, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene.
Radikalisierte Personen in der Schweiz
In Hinblick auf die soziologischen Profile von Personen, die in der Schweiz als radikalisiert gelten, liefert eine Studie aus dem Jahr 2019 interessante Ergebnisse (Eser Davolio et al., 2019). Die Analyse einer vom NDB zur Verfügung gestellten Stichprobe von 130 radikalisierten Personen zeigt eine Überrepräsentation von Personen muslimischen Glaubens im Alter zwischen 21 und 35 Jahren aus der zweiten Einwanderergeneration. In der Schweiz finden sich unter den betrachteten Personen zudem 20% Konvertiten, dieser Anteil ist höher als in anderen europäischen Ländern.
Ein weiteres Ergebnis der Analyse ist, dass das Phänomen der Radikalisierung vor allem städtische Zentren zu betreffen scheint. Die meisten Fälle, in denen Personen aus dschihadistischen Motiven ins Ausland aufgebrochen sind, stehen im Zusammenhang mit 13 Schweizer Städten, weswegen auch von der Existenz von «Brutstätten der Radikalisierung» ausgegangen wird.
Was die geographische Verteilung betrifft, so finden sich in absoluten Zahlen gesprochen die meisten Fälle in der Deutschschweiz (70). Gemessen an der Bevölkerungsgrösse ist die Romandie jedoch am stärksten vom Phänomen der Dschihadreisenden betroffen. Analysiert man ihr Vorkommen in den «Grossregionen» der Schweiz (vgl. Grafik unten), so weist die Genferseeregion mit 2,7 Fällen pro 100’000 Einwohner die höchste Konzentration auf. Im Verhältnis zur muslimischen Bevölkerung schliesslich ist mit 0,9 Fällen pro 1000 muslimische Einwohner das Tessin die Region mit der höchsten Fallrate, auch wenn diese Zahl aufgrund der sehr begrenzten Anzahl an Fällen mit Vorsicht zu betrachten ist.
Grafik 1: Eser Daviolio et al., 2019, S. 14.
Die Position der muslimischen Verbände
Mehrere schweizerische muslimische Organisationen (Dachverbände und andere) haben zur Radikalisierung Stellung bezogen. Die Haltungen dieser Verbände sind sehr unterschiedlich. Sie reichen von einer Einstellung, die negiert, dass durch Gruppen wie Daesch oder Al-Qaida begangene Taten einen religiösen Charakter aufweisen würden oder dass sie islamkonform seien, bis hin zu einer Anerkennung des Problems und einer Erarbeitung von Antworten, die den radikalen Doktrinen entgegenwirken sollen. In der Folge, und auch wenn im Bereich der Radikalisierung noch viel zu tun bleibt, sind auch innerhalb der muslimischen Verbandstrukturen Projekte entstanden, die darauf abzielen, Formen der gewaltbereiten Radikalisierung zu verhindern. Diese Initiativen sind ein Beweis für die Bereitschaft einiger Akteure aktiv zu werden, da sie das Phänomen der Radikalisierung als eine zentrale gesellschaftliche Herausforderung betrachten.
Das Projekt Tasamouh hat beispielsweise zum Ziel, mittels eines intrakulturellen Mediationsangebots extreme Entgleisungen unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadt Biel zu verhindern. Die Waadtländer Union Muslimischer Verbände (UVAM) hat kürzlich ein Präventionsprojekt ins Leben gerufen. Die beiden genannten Projekte werden im Rahmen des Nationalen Aktionsplans zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus (NAP) subventioniert, den der Bund im Dezember 2017 vorgelegt hat. Andere Verbände haben sich in eine ähnliche Richtung engagiert, indem sie innerhalb ihrer Strukturen Workshops organisiert haben, die sich vor allem an junge Menschen richteten.
Mehrere muslimische Akteure stehen zudem auch mit den zuständigen staatlichen Behörden in Kontakt, um möglichen Entgleisungen innerhalb der Gemeinde vorzubeugen. Andere muslimische Organisationen sind im Gegensatz hierzu jedoch auch dadurch bekannt geworden, dass sie an der Ausreise bestimmter Personen in die Kampfzonen Syriens und des Irak beteiligt waren. Eine hiervon war die An-Nur Moschee in Winterthur. Einer der Prediger an dieser Moschee wurde 2019 nach einem Urteil des Zürcher Kantonsgerichts wegen öffentlichem Aufruf zur Gewalt ausgewiesen. In Biel stand die Ar-Rahman-Moschee im Mittelpunkt des Medieninteresses, weil eine Reihe von Personen aufgrund ihres Engagements im dschihadistischen Milieu im Visier der Behörden standen. Die Predigten, die der Imam Abu Ramadan in dieser Moschee hielt, nähren unter anderem die Diskussion darüber, inwieweit einige religiös-muslimische Vertreter in der Schweiz integriert sind. Abu Ramadan wird vorgeworfen, Hass gegen andere Religionen und Kulturen zu schüren.
Die Entwicklung von Präventionsprojekten und -Massnahmen in der Schweiz
Seit den tödlichen Anschlägen in Frankreich im Jahr 2015 haben verschiedene Schweizer Kantone und Städte beschlossen, einen Beratungs- und Unterstützungsdienst einzurichten, der sich speziell der Prävention von Radikalisierung widmet. So haben die Kantone Genf, Waadt, Tessin und St. Gallen in den letzten Jahren Präventionssysteme eingerichtet. In der Deutschschweiz steht die Stadt Winterthur im Bereich der Radikalisierungsprävention an vorderster Front, gefolgt von Biel.
Die verschiedenen Präventionssysteme stützen sich in ihrer Arbeit auf unterschiedliche Ansätze und bedienen sich je nach Fall sicherheitspolitischer oder integrationsfördernder Massnahmen. Die Aktivitäten der lokalen und kantonalen Stellen müssen den Rahmenbedingungen des Nationalen Aktionsplan (NAP) entsprechen. Da wo keine Massnahmen ins Leben gerufen wurden, die sich speziell der Radikalisierungsprävention widmen, kümmern sich in der Regel kantonale Integrationsbehörden oder Polizeistellen um die Bewältigung der gewalttätigen Radikalisierung.
Staatliche Projekte
Für die Deutschschweiz
Extremismus und Gewaltprävention – Stadt Biel.
Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention FSEG – Stadt Winterthur.
Fachstelle FAREX (Fach- und Anlaufstelle Radikalisierung und Extremismus – St.Gallen.
Für die Romandie und das Tessin
Gardez le lien – Canton de Genève.
Prévention des extrémismes violents – Canton de Vaud.
Dispositivo di prevenzione della radicalizzazione – Canton Ticino.
Liste der zuständigen Stellen nach Kantonen
Projekte muslimischer Verbände
Bibliografie
Literatur
Khosrokhavar, F. (2014). Radicalisation. Paris: Maison des sciences de l’homme.
Zur Vertiefung
Literatur
Adraoui, M.-A. (2020). Comprendre le salafisme. Paris: L’Harmattan.
AlDe’Emeh, M. (2015). Pourquoi nous sommes tous des djihadistes. Paris: La Boîte à Pandore.
El Karoui, H., & Hodayé, B. (2021). Les militants du djihad. Potrait d’une génération. Paris: Fayard.
Micheron, H. (2020). Le jihadisme français. Quartiers, Syrie, prisons. Paris: Gallimard.
Schweizerische Kriminalprävention SKP (2018). Thema Radikalisierung. SKP Info, 2.
Truong, F. (2017). Loyautés radicales. L’islam et les “mauvais garçons” de la nation. Paris: La Découverte.
Links
Ufuq.de, Pädagogik zwischen Islam, Islamfeindlichkeit und Islamismus.
Podcast