«In der arabischen Welt ist Sex das Gegenteil von Sport. Alle reden über Fussball, aber kaum jemand spielt wirklich. Alle haben Sex, aber niemand will darüber sprechen.»
Ägyptischer Gynäkologe zitiert von Shereen el Feki
Islam und die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten. Zwischen Normativität, Kontextualität und Erfindungsreichtum
Der Körper als soziale Grenze
Wenn es um den Islam geht, erweist sich der Körper der Frauen oft als Markierung einer Grenze zwischen Gruppen; wenn nicht einer physischen, so doch zumindest einer symbolischen Grenze. In der Schweiz haben verschiedene öffentliche Debatten wie diejenige um das Verbot von Minaretten, den Handschlag oder die Vollverschleierung eine stereotype Darstellung muslimischer Frauenkörper gezeigt und diese Polarisierung verstärkt. Tatsächlich dienen Frauenkörper und vor allem die Hervorkehrung ihrer Weiblichkeit nicht nur dazu, Grenzen zwischen Geschlechtergruppen zu ziehen (d.h. zwischen Männern, Frauen und Nichtbinären), sondern sie markieren auch soziale Zugehörigkeiten, inklusive religiöse, ethnische oder kulturelle. So neigen Personen kollektiv dazu, sich eine muslimische Frau als eine Person vorzustellen, die ein Kopftuch und weite sowie bedeckende Kleidung trägt, während eine Frau mit glattem, gesträhnten Haar in einem Hosenanzug von ebendiesen Personen zumeist nicht als Musliminnen klassifiziert werden. Mit diesen verkürzten Schlüssen gehen auch Vorstellungen über die Handlungsmacht dieser Frauen einher, die sich wie folgt zusammenfassen lassen: Jene mit Kopftuch und weiter Kleidung gelten als passiv, ja sogar der Autorität eines Mannes unterworfen; jene im Hosenanzug hingegen als aktiv und vom Patriarchat emanzipiert. Diese beidseitige Reduzierung der vielfachen Zugehörigkeiten von Frauen auf ihr «einfaches» Aussehen spiegelt jedoch nicht die Pluralität der Identitäten und sozialen Rollen wider, die sie innehaben. Zudem erlauben diese einfachen Vorstellungen es nicht, die Machtbeziehungen von Männern über Frauen zu erfassen, die auch in den säkularisierten und überwiegend nichtmuslimischen Gesellschaften fortbestehen. Diese kollektiven Bilder frieren das Feminine karikaturenhaft ein und verschleiern die Vielfalt der Frauen, ihre Verhältnisse zu ihren Körpern und ihre Plätze in der Gesellschaft.
Was sagt «der Islam» zum Verhältnis zwischen den Geschlechtern?
Die Antwort ist bei weitem nicht so einfach und offensichtlich, wie es scheint. Der Islam «sagt» nichts. Es sind Männer und Frauen, die die Texte zum Sprechen «bringen». Die schriftlich-islamischen Quellen des Islam, Koran und Sunna, unterliegen seit Anbeginn des Islam der Auslegung durch Rechtsgelehrte und Exegeten. Diese Interpretationsarbeit setzt sich bis heute fort und findet auch in Europa und der Schweiz statt. Im Zentrum stehen dabei auch Intimität betreffende Themen wie Ehe, sexuelle Beziehungen und Orientierung. Verschiedene Auslegungen erklären z.B., dass der Ehemann für die finanzielle Absicherung der Familie verantwortlich ist, dass Brüder doppelt so viel Erbanteil zusteht wie ihren Schwestern, dass Homosexualität Männern und Frauen verboten ist oder sie schreiben, insbesondere den Frauen, Keuschheit vor. Diese Positionen werden über verschiedene Kanäle wie z.B. auch soziale Netzwerke verbreitet.
Dass patriarchalische Strukturen weltweit Frauen unterdrücken und sogar verletzen ist eine Tatsache. Es wäre jedoch falsch davon auszugehen, dass alle Musliminnen und Muslime sich vollständig an religiöse Prinzipien halten und streng nach den Kommentaren der Exegeten leben. Gewiss spielt die religiöse Sozialisation eine entscheidende Rolle für die Art und Weise, wie der und die Einzelne den Islam lebt. Aber diese Sozialisierung ist plural und kontextabhängig: sie findet in der Familie statt, wo sie von kulturellen und familiären Traditionen geprägt ist; sie vollzieht sich in der Nachbarschaft, wo sie vom Miteinander und den Machtverhältnissen unter Gleichaltrigen geformt wird; und geht in der Moschee vonstatten, wo sie von der Ausrichtung der Imame sowie der Religionslehrerinnen und Lehrer abhängig ist. Wie Musliminnen und Muslime ihre Religion ausleben, ist folglich nicht auf die Regeln der Rechtsprechung reduzierbar; dürfen doch die ethischen, mystischen und theologischen Einflüsse nicht ignoriert werden.
Wie steht es um die muslimischen Frauen in der Schweiz?
In der Schweiz bringen viele Stimmen die grosse Vielfalt von Männern, Frauen und nichtbinären Menschen muslimischen Glaubens oder muslimischer Kultur zum Ausdruck. Einige von ihnen übernehmen traditionelle Vorstellungen von Geschlechterrollen. Andere geben diesen gar kein Gewicht und leben nach ihren Vorstellungen oder kämpfen gar für mehr Anerkennung und Gleichberechtigung. Zwar unterstützt eine Mehrheit der muslimischen Verbände die Konzepte von Ehe und Familie; ein Gleichheitsverständnis, nach dem Mann und Frau komplementär wirken oder die heterosexuelle Norm. Die Existenz bestimmter Normen anzuerkennen bedeutet jedoch nicht, dass sie auch strikt angewandt werden. Zudem lassen sich die Positionen der muslimischen Verbände in der Schweiz nicht auf einen spezifischen Korpus an Normen reduzieren. Vorstandsmitglieder von Organisationen, Imame oder Religionslehrer vertreten unterschiedliche Meinungen zu diesen Themen, manche fordern auch Reformen. Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass all diejenigen, die das Angebot muslimischer Organisationen nutzen, die rechtsbezogenen Ansichten oder die theologischen Haltungen von Verbandsvertretern, Imamen oder Predigern teilen. Manche sind im Gegenteil kritisch und wünschen sich Offenheit und die Einbeziehung von Gruppen, die aus orthodoxer Sicht als problematisch gelten können wie z.B. Geschiedene oder sexuelle Minderheiten.
Schliesslich sollte man die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern nach Positionen bezüglich des Geschlechts im Islam nicht nur auf Musliminnen und Muslime beziehen, die in die Moscheen gehen. Dreiviertel aller Musliminnen und Muslime in der Schweiz gehören gar keinem islamischen Verein an, nehmen lediglich wenige Male im Jahr an religiösen Feierlichkeiten teil und beten selten. In ihren Sinnkonstruktionen sind normative religiöse Vorstellungen von Geschlecht oder Sexualität oftmals gar nicht vorhanden.
Jenseits der Stereotype
Jenseits des karikaturhaften Bildes einer quasi nicht vorhandenen, gar unterworfenen, durch ein Kopftuch verschleierten und von einem Mann abhängigen Frau sind die Musliminnen in der Schweiz so vielfältig wie andere Frauen. Ob Berufstätige im Gesundheitsbereich, Schauspielerinnen am Theater oder amerikanische Rap-Fans; ob engagierte Joggerinnen, Basketballanhängerinnen oder Yoga-Begeisterte; ob vielfach Reisende, Personen auf der Suche nach neuen kulinarischen Köstlichkeiten oder Museumsliebhaberinnen, ob Freundinnen, Schwestern, Mütter oder Ehefrauen: sie sind vor allem Frauen.
Zur Vertiefung
Literatur
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